Therese (Rooney Mara) verbringt ihre Tage wie eine Schlafwandlerin. Sie arbeitet in einem Job, der sie nicht interessiert, und ist liiert mit einem Mann, den sie nie geliebt hat. Sie sieht die Leute in das Geschäft hinein- und wieder herauskommen, starrt gedankenversunken auf die kleinen Miniaturzüge in der Spielzeugabteilung und denkt daran, wie sie selbst als Kind damit gespielt hat. Und still ruht die Frage auf ihrem starren Gesicht, warum sie sich so leer fühlt. Warum sie nicht in der Lage ist, Glück zu finden. Da nimmt sie eine Bestellung entgegen. Eine blonde Frau mittleren Alters (Cate Blanchett) will für ihre Tochter eine Puppe zu Weihnachten kaufen, doch leider ist dieses Modell schon ausverkauft. Nach ein paar ausgetauschten freundlichen Blicken, Kaufempfehlungen und ein paar weiteren, freundlichen, taxierenden Blicken verabschiedet sich die blonde Frau namens Carol Aird. Therese blickt ihr nach, bis sie aus dem Kaufhaus verschwunden ist. Mit einem Blick auf den Tresen macht ihr Herz einen sichtbaren Hüpfer: Sie hat ihre Handschuhe vergessen. Regisseur Todd Haynes scheint nach den brillant gefilmten „Velvet Goldmine“ und „I’m Not There“ mit seinem neuen Film Carol den vorläufigen Höhepunkt seiner visuellen Schaffenskraft erreicht zu haben, pulsieren seine ruhigen, in jeder einzelnen Einstellung pointierten Bilder doch nur so mit gestalterischer Hingabe. Hier wird nie nur etwas gezeigt, kein Frame wird verschwendet, ohne etwas über die faszinierenden Figuren zu erzählen: „Carol“ basiert auf dem Roman „The Price of Salt“ der berühmt berüchtigten Autorin Patricia Highsmith, die vor allem durch psychologisch-abgründige Thrillerdramen wie „Strangers on a Train“ und „The Talented Mr. Ripley“ bekannt wurde. Bereits in der Verfilmung des letzteren spielte Cate Blanchett mit, die in „Carol“ nun die Titelrolle übernimmt und – auffällig im Vergleich zur Vorlage – eine beinah ebenso präsente, zentrale handelnde Figur ist wie Therese. Das adaptierte Drehbuch von Phyllis Nagy und Haynes erlauben uns, in die Gefühlswelten beider Frauen – deren Darstellerinnen sich die Seele aus dem Leib spielen – abzutauchen und Carol nicht „bloß“ als Objekt von Therese‘ eigener Perspektive zu sehen. So entfaltet sich ein kurzer Ausschnitt aus zwei sehr unterschiedlichen und doch sehr ähnlichen Leben: Die junge, verwirrte Frau, die auf der Suche nach dem ist, was in ihrem Leben wirklich fehlt und was sie sich bislang nicht erklären konnte. Und die Frau, die einen langen Weg gehen musste, um mit sich selbst und der Welt Frieden zu schließen, nur um sich noch immer an der Grausamkeit ihrer Mitmenschen die Zähne auszubeißen. Und die beide einander gesucht haben.
Filmplakat: The Weinstein Company / Studiocanal